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»Semester« belastet EU

Kontrollinstrument hat Auswirkungen auf ganz Europa
Von Frank Puskarev, Brüssel

Die EU-Kommission kontrolliert mit Hilfe des »Europäischen Semesters« die Mitgliedsstaaten. Mit katastrophalen Folgen, meinen Linke.

Wer »Europäisches Semester« hört, denkt an Studenten und Professoren. Vielleicht auch deshalb haben die Beamten der EU-Kommission diesen Namen für das mit der Europa-2020-Strategie eingeführte Kontrollinstrument zur besseren Überwachung der Mitgliedstaaten gewählt. Denn in Ihren Augen stellt sich die EU wohl so dar: hier die studentischen Mitgliedstaaten, noch nicht ganz in der Lage, ihren Lebenswandel selbst zu organisieren. Dort Professor EU-Kommission, der sie stetig überwacht und einmal pro Semester Prüfungen ansetzt.

Das Europäische Semester sieht verschiedene Überprüfungen vor, so der wirtschaftlichen Situation, der Handelsbilanzen und der Haushalte. Dabei wird geprüft, ob die jährliche Neuverschuldung die festgeschriebenen drei Prozent nicht übersteigt, ob die Schuldenlast des Mitgliedstaates die Maximalschuldenquote von 60 Prozent übersteigt und ob die Handelsbilanz relativ (plus/minus drei Prozent) ausgeglichen ist. Stellt die Kommission Verstöße fest, werden Maßnahmen zur Behebung empfohlen und Sanktionen angedroht.

Die vorgeschlagenen Maßnahmen sind regelmäßiger Anlass zur Kritik von linker Seite. In der Krise hätten Kürzungen bei Renten, Sozialleistungen, öffentlichem Dienst und Investitionen bei gleichzeitig niedrigen Steuern katastrophale Effekte für das Leben von Millionen Europäern, liest man in einer gemeinsamen Erklärung linker Politiker aus sieben EU-Ländern, die anlässlich einer parlamentarischen Konferenz zum europäischen Semester in Brüssel zusammenkamen. Millionen hätten Job und Haus verloren, seien in Armut und soziale Ausgrenzung geworfen worden. Krankenhäuser, Schulen, Universitäten und Firmen wurden geschlossen. Die Menschen in Griechenland, Portugal, Zypern, Irland und Spanien sähen sich ihrer Zukunft beraubt.

Die EU-Kommission dagegen lässt pünktlich zur Europawahl Optimismus verbreiten: Die aktuellen Wirtschaftszahlen zeigen ein Ende der Talfahrt und versprechen leichte Erholung. So sei der Schuldenstand in der Eurozone erstmals seit Krisenbeginn wieder zurückgegangen und betrage nun 92,7 Prozent, ein Rückgang um 0,7 Prozent. Selbst Krisenstaaten wie Portugal und Italien hätten ihre Schuldenlast senken können.

Auch der IWF sieht die Eurozone im Aufwind und prophezeite diese Woche ein Prozent Wachstum für 2014 und 1,4 für 2015. Dafür wollte sich Kommissionspräsident José Manuel Barroso in Brüssel feiern lassen. Die Zahlen seien gut, das Schlimmste überwunden, man dürfe die Prioritäten nicht ändern, dann werde sich auch das »Drama der Arbeitslosigkeit, insbesondere der Jugendarbeitslosigkeit« bald zum Guten wenden.

Der zeitgleich veröffentlichte Bericht zur sozialen Lage in Europa spreche eine andere Sprache, sagt Gabi Zimmer, Fraktionsvorsitzende der Linken im EU-Parlament. Er sei »ein weiterer Beweis dafür, dass das europäische Krisenmanagement der Regierenden die Schwachen und Armen einseitig belastet. Immer mehr Menschen rutschen in die Armut, weil prekäre Verträge, Teilzeitarbeit und schlechte Bezahlung zunehmen. Gerade deshalb gibt es keine Alternative zu EU-weiten armutsfesten Mindestlöhnen, Mindestrenten und Mindesteinkommen.« In der EU klaffe die Kluft zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander, das führe zu sozialen Unruhen und der Erosion demokratischer Strukturen. Davon aber war in den Reden der versammelten EU-Prominenz selten bis gar nicht die Rede.

Artikel zuerst veröffentlich in der sozialistischen Tageszeitung Neues Deutschland, Printausgabe vom 25./26. Januar 2014 

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